Maradona, Messi, Bielsa: Die Legendenfabrik Newell's Old Boys (2024)

Bei den Newell’s Old Boys hat einst die Weltkarriere von Lionel Messi begonnen. In diesem Klub verschmilzt der Fussball mit Kultur, Gesellschaft und Politik. Eine Spurensuche in Rosario.

Tobias Käufer, Rosario

5 min

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Noch ist das Estadio Marcelo Bielsa in Rosario ganz in der Hand von Diego Maradona. Die Fankurve trägt seinen Namen, es gibt einen nach ihm benannten Rundweg, und sein Konterfei prangt an der Aussenwand des Stadions. «Erleuchteter Diego» steht darunter. Das Stadion der Newell’s Old Boys aus der argentinischen Industriestadt Rosario gleicht einem grossen Museum von Fussballlegenden.

Und doch lebt die Arena, sie ist Heimat von Kultur und Sport, Politik und Gesellschaft. Spätestens am Sonntag, wenn ab 16 Uhr Schweizer Zeit im WM-Final zwischen Argentinien und Frankreich der neue Weltmeister gekürt wird, hoffen sie hier in der Provinzhauptstadt des Gliedstaates Santa Fe, dass auch Lionel Messi zur unsterblichen Legende wird. Dass er zurückkehrt in seine Heimatstadt Rosario und seinen Landsleuten, Nachbarn und Freunden den WM-Pokal präsentiert. Messi würde damit seiner Weltkarriere den letzten Mosaikstein hinzufügen.

Die Newell’s Old Boys sind das heimliche Zentrum des argentinischen Fussballs. Normalerweise stehen die Klubs aus der Hauptstadt Buenos Aires, River Plate und die Boca Juniors, im Fokus. Doch Rosario, die drittgrösste Stadt des Landes, ist eine Legendenfabrik.

NZZ / krp.

Der Weltmeister-Trainer von 1978, Cesar Luis Menotti, ist in Rosario geboren, genauso wie der derzeitige Nationaltrainer Lionel Scaloni, der im vergangenen Jahr mit der Copa America den ersten Titel für Argentinien seit 28 Jahren holte. Den Coup schaffte Scaloni ausgerechnet dank einem Finalsieg gegen den Erzrivalen Brasilien, im legendären Maracanã in Rio de Janeiro.

«Wenn Sie Meister werden wollen, suchen Sie sich einen Argentinier»

Einer, der im Trikot der Newell’s Old Boys und auch des Nationalteams Geschichte geschrieben hat, ist Armando Garrido. Er gehörte zur Mannschaft, die 1978 den ersten WM-Titel der Geschichte für Argentinien gewann. «Es liegt wohl an unserer DNA», sagt Garrido, als er versucht, das Erfolgsrezept der argentinischen Fussballer zu erklären. «Wenn Sie gut spielen wollen, entscheiden Sie sich für einen Brasilianer, wenn Sie aber Meister werden wollen, suchen Sie sich zumindest einen Argentinier», sagt Garrido.

Wer einmal die Liste der prominentesten Spieler und Trainer durchgeht, die die Newell’s Old Boys in ihrer Galerie der Legenden präsentieren, findet dort eine nicht unerhebliche Anzahl jener Spieler und Trainer, die den argentinischen Fussball geprägt haben.

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Messi spielte in Kindheitstagen vor dem Wechsel nach Barcelona hier. Ariel Ortega, Maxi Rodríguez, Walter Samuel, Jorge Valdano, Mauricio Pochettino, Gabriel Batistuta, Marcelo Bielsa, Gabriel Heinze und natürlich – wenn auch nur für fünf Spiele – Maradona haben sich in die Geschichte des Klubs eingetragen. «Hier kommt alles zusammen, wir haben die richtige Mischung aus europäischen und südamerikanischen Eigenschaften», sagt Garrido.

«Aber ganz bestimmt hat es auch etwas mit unserer besonderen Leidenschaft zu tun.» Im Fussball müsse man wie in jedem anderen Beruf auch auf die Vernunft setzen. «Aber ich denke, dass ohne Leidenschaft etwas fehlt. Und wir haben wirklich viel Leidenschaft.»

Lionel Messi spielte als Bub für die Newell’s Old Boys.

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Wirtschaftliche Misere und viel Gewalt

Die grosse argentinische Stärke sei die Mentalität, sagt Garrido. «Messi ist, im Gegensatz zu so vielem Unsinn, der über ihn gesagt und geschrieben wurde, ein Spieler mit einer sehr grossen mentalen Kapazität, mit enormer mentaler Stärke, zusätzlich zu seinem Talent.» In Katar sei nun zu sehen, was mentale Stärke und Leidenschaft gemeinsam ausmachen können. «Die Spieler sind nicht wegen des Geldes dorthin gegangen, sie wollen den Pokal für die 47 Millionen Argentinier gewinnen und für Messi. Für uns.»

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Der Hunger nach Erfolg ist überall in Rosario zu spüren. In einer Stadt, wo der Erzbischof vor wenigen Wochen noch zu Gebeten für den Frieden aufrufen musste, weil sich fast jeden Tag ein Tötungsdelikt ereignet. Knapp die Hälfte der Bevölkerung weiss nicht, ob sie in der nächsten Woche noch das Essen auf den Tisch stellen kann. Der Drang nach sozialem Aufstieg, Erfolg und wirtschaftlicher Sicherheit ist gross. Der Fussball ist ein möglicher Weg, diese Ziele zu erreichen.

Erste Anlaufstelle für vielversprechende Talente ist das Trainingszentrum Malvinas, eine knappe halbe Autostunde vom Stadion entfernt gelegen. Dieser Name ist kein Zufall. Die Falklandinseln, in Argentinien «Malvinas» genannt, sind für die Bevölkerung eine nationale Herzensangelegenheit. Deshalb haben sie im Trainingszentrum die Szene an die Wand gemalt, die zeigt, wie Diego Maradona gegen die verhasste Kolonialmacht England an der WM 1986 den Ball mit der Hand ins Tor beförderte und anschliessend die Hand Gottes dafür verantwortlich machte.

Von klein auf bekommen die Kinder diesen Kampfgeist um die nationale Ehre mit in die Wiege gelegt. Vielleicht sind die Spiele der argentinischen Nationalmannschaft deshalb immer so emotional aufgeladen. Weil es in jedem Spiel etwas zu erobern oder zu verteidigen gibt.

Fussball und Politik sind in Argentinien nicht zu trennen

«Alle, die irgendwann mal für die Newell’s Old Boys gespielt haben, behalten eine enge Beziehung zu diesem Klub. Und sie halten diese Verbindung, auch wenn sie in die Welt reisen und Karriere machen», sagt Gabriela Bodo, die Kultursekretärin des Klubs. Vielleicht liegt die Verbundenheit daran, dass bei den Newell’s Old Boys Kultur, Politik und Gesellschaft viel enger miteinander verwoben sind als in europäischen Vereinen.

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Auf dem weitläufigen Klubgelände gibt es Grillplätze für die traditionellen Asados, die argentinischen Grillfeste. Auf einer roten Bank vor dem Presseeingang wird an Frauen erinnert, die Gewalt zum Opfer fielen. Und die «Grossmütter der Plaza de Mayo», eine Menschenrechtsorganisation, die während der dunklen Zeit der Militärdiktatur mutig demonstrierte, sind auf einer Aussenwand des Stadions verewigt.

Während in Europa diskutiert wird, ob Fussball und Politik zusammengehören, ist das in Argentinien gar nicht mehr zu trennen. So wachsen Persönlichkeiten heran, die eine eigene Meinung vertreten und sie gegebenenfalls auch in schweren Stürmen verteidigen. Und es wird eine Verbindung geschaffen, die für das ganze Leben hält. «Eigentlich kommen sie alle irgendwann wieder zurück», sagt Gabriela Bodo.

Insgeheim hofft man in Rosario, dass das auch für Lionel Messi gilt, nicht nur nächste Woche mit dem WM-Pokal in der Hand. Sondern vielleicht auch in zwei, drei Jahren, wenn er seine Karriere ausklingen lässt. Warum soll er das nicht dort machen, wo alles angefangen hat, in der Legendenfabrik der Newell’s Old Boys?

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